Grüner Wasserstoff in der Energiewende: Fokussierter Einsatz unverzichtbar

Grüner Wasserstoff ist ein wichtiger Baustein der Energiewende, allerdings nicht für alle Anwendungen. Eine Priorisierung bestimmter Bereiche ist ratsam.

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(Bild: peterschreiber.media / Shutterstock.com)

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Von
  • Dr. Wolf-Peter Schill
  • Martin Kittel
Inhaltsverzeichnis

Wasserstoff soll der Heilsbringer in der Energiewende werden. Was nicht direkt oder ausreichend bequem elektrifiziert werden kann, soll mit Wasserstoff angetrieben werden. Dementsprechend misst die deutsche Bundesregierung Wasserstoff eine bedeutende Rolle in der Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft zu. Unsere Artikelserie will die Pläne der Bundesregierung genauer unter die Lupe nehmen und konkrete Anwendungsbereiche – insbesondere im Kfz-Bereich – beleuchten. Was technisch möglich ist, soll auch auf Effizienz und Skalierbarkeit abgeklopft werden.

Die Bundesregierung strebt an, Deutschland bis zum Jahr 2045 treibhausgasneutral zu machen. Bis zum Jahr 2030 sollen die CO2-Emissionen bereits um mindestens 65 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 sinken, bis 2040 um mindestens 88 Prozent. Diese Ziele sind im jüngst geänderten Klimaschutzgesetz festgehalten und erfordern eine Beschleunigung der Energiewende. Wesentliche Bausteine hierzu sind der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien und eine Steigerung der Energieeffizienz. Außerdem spielt die sogenannte Sektorenkopplung eine zunehmend wichtige Rolle, also die direkte oder indirekte Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energien für bisher nicht elektrifizierte Anwendungsbereiche im Verkehr, Wärmesektor und in der Industrie.

Vor diesem Hintergrund wird die Rolle von Wasserstoff in der Energiewende derzeit in Politik, Wirtschaft und Forschung stark diskutiert. Auch in den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl spielt Wasserstoff eine Rolle. So fällt der Begriff etwa im aktuellen Programm von CDU/CSU ganze 25-mal, bei den Grünen 21-mal, bei der FDP 13-mal und bei SPD sowie der Linken je 12-mal.

In den Programmen zur letzten Bundestagswahl 2017 war Wasserstoff noch kein Thema. Vor vier Jahren wurde der Begriff von CDU/CSU und den Grünen jeweils nur einmal genannt, bei den anderen Parteien gar nicht.

Dr. Wolf-Peter Schill

Dr. Wolf-Peter Schill ist stellvertretender Leiter der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin und leitet den Forschungsbereich "Transformation der Energiewirtschaft". Seine Forschungsschwerpunkte sind die quelloffene Stromsektormodellierung und die Integration erneuerbarer Energien durch Energiespeicher und die Sektorenkopplung. Er publiziert regelmäßig in einschlägigen internationalen Fachjournals. Zuletzt war er Mitglied der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität, der ESYS-Arbeitsgruppe Wasserstoffwirtschaft 2030 und des Leibniz-Forschungsverbunds Energiewende.

Martin Kittel

Martin Kittel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin und Doktorand im DIW Berlin Graduate Center sowie an der TU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die modellbasierte Analyse der Dekarbonisierung der europäischen Strommärkte und Flexibilitätsoptionen zur Integration fluktuierender erneuerbarer Energien.

Im Fokus steht insbesondere der sogenannte grüne Wasserstoff, der durch Elektrolyse erzeugt wird. Dabei wird Wasser unter Einsatz von elektrischem Strom aus erneuerbaren Energien in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. Klimaschädliche Emissionen fallen bei der Elektrolyse nicht an. Grundsätzlich könnte grüner Wasserstoff für verschiedenste Anwendungen in praktisch allen Sektoren genutzt werden und dort die Nutzung fossiler Kraft- und Brennstoffe ersetzen.

Vor gut einem Jahr hat die Bundesregierung ihre Nationale Wasserstoffstrategie vorgelegt. Sie enthält übergeordnete Ziele für den Markthochlauf von Wasserstoff in Deutschland, beschreibt verschiedene Entwicklungsbereiche und Handlungsfelder und nennt einige – mehr oder weniger konkrete – Maßnahmen. Für das Jahr 2030 wird ein Wasserstoffbedarf von 90 bis 110 TWh projiziert, von dem bis zu 14 TWh in Deutschland hergestellt werden sollen. Bis 2050 steigt dieser Bedarf auf bis zu 380 TWh. Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht nur kurz-, sondern auch langfristig der überwiegende Teil des Wasserstoffbedarfs importiert werden muss. Grundsätzlich ist die Nationale Wasserstoffstrategie stark von technologie- und industriepolitischen Überlegungen geprägt. Die Frage nach der optimalen Rolle von Wasserstoff im zukünftigen Energiesystem steht indes weniger im Fokus.

Auf Bundesebene gibt es darüber hinaus diverse Maßnahmen zur Förderung von Forschung und Entwicklung sowie Demonstration und Markthochlauf von Wasserstofftechnologien. Diverse Förderprogramme werden dabei von der bundeseigenen NOW GmbH koordiniert, insbesondere das Nationale Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NIP).

Seit Mitte 2020 berät zudem der Nationale Wasserstoffrat die Bundesregierung. Dieses Gremium besteht aus Expert:innen insbesondere aus Forschung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft und verfasst Studien, Stellungnahmen und Positionspapiere, zuletzt unter anderem einen Aktionsplan für den Anschub des Markthochlaufs der Wasserstoffwirtschaft in Deutschland innerhalb der nächsten Legislaturperiode.

Auch wenn Wasserstoff ein farbloses Gas ist, hat er in der aktuellen Debatte viele Farben. Der Fokus der Nationalen Wasserstoffstrategie wie auch der meisten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in Deutschland liegt auf grünem Wasserstoff aus Wasser-Elektrolyse. Andere potenziell treibhausgasneutrale Herstellungsverfahren auf Basis fossiler Brennstoffe, z.B. sogenannter blauer Wasserstoff (auf Basis von Erdgas, mit CO2-Abscheidung und dauerhafter unterirdischer Lagerung) oder türkiser Wasserstoff (Methanpyrolyse, mit festem Kohlenstoff als Nebenprodukt) bleiben außen vor.

Ob und inwiefern auch sie im Rahmen eines Markthochlaufs zumindest übergangsweise genutzt werden sollten, wird kontrovers diskutiert. Umstritten ist dabei insbesondere, ob ein Teil der entstehenden Kohlenstoffemissionen kurz- oder langfristig doch in die Atmosphäre entlassen wird, und ob der Aufbau entsprechender Produktionsanlagen zu unerwünschten Pfadabhängigkeiten führt, bzw. ob sie zu Stranded Assets würden.

Gegenwärtig wird in diversen Industrieprozessen bereits Wasserstoff eingesetzt, in Deutschland im Umfang von ca. 55 TWh jährlich. Dabei handelt es sich in der Regel um konventionellen, sogenannten grauen Wasserstoff. Er wird auf Basis von Erdgas per Dampfreformierung ohne CO2-Abscheidung hergestellt und hat aufgrund der hohen Emissionen keine Zukunft. Daneben gibt es noch einige weitere "Farbschattierungen" für andere Herstellungsprozesse von Wasserstoff, basierend auf teils anderen Ausgangsstoffen und mit verschiedenen Nebenprodukten.

Optionen der Wasserstofferzeugung: Ausgangsstoffe, Verfahren, Nebenprodukte und zugeordnete Farben. Grüner Wasserstoff aus Wasser-Elektrolyse mit erneuerbarem Strom ist im Kontext der Energiewende am relevantesten.

(Bild: Sachverständigenrat für Umweltfragen, Stellungnahme "Wasserstoff im Klimaschutz: Klasse statt Masse", 23.06.2021.)

Von Wasserstoff zu unterscheiden sind Syntheseprodukte, die auf Basis grünen Wasserstoffs in sogenannten Power-to-X-Prozessen (PtX) erzeugt werden können. Zu diesen Stoffen gehören synthetisches Erdgas sowie verschiedene flüssige Kraftstoffe, deren Herstellung auch als Power-to-Liquid (PtL) bezeichnet wird. Derartige Kohlenwasserstoffe werden aus grünem Wasserstoff und einer klimaneutralen Kohlenstoffquelle katalytisch synthetisiert. Als sogenannte E-Fuels können sie Erdgas sowie erdölbasierte Kraft- und Brennstoffe ersetzen.

In der energiepolitischen Debatte wird oft nicht klar getrennt zwischen reinen Wasserstoff-Anwendungen und solchen für E-Fuels. Auch in der Energiesystemanalyse werden beide Energieträger oft gemeinsam betrachtet. Zu beachten ist, dass es erhebliche Unterschiede sowohl bei der Energieeffizienz als auch beim Infrastrukturbedarf für Wasserstoff- bzw. E-Fuel-Anwendungen gibt. Auch die Treibhausgasemissionen können – je nach Strommix und Kohlenstoffquelle – sehr unterschiedlich ausfallen.

Grundsätzlich ist die Nutzung von grünem Wasserstoff oder auf ihm basierenden Syntheseprodukten in praktisch allen Anwendungsbereichen denkbar, in denen gegenwärtig fossile Energieträger eingesetzt werden. In diversen Studien zur künftigen Entwicklung des Energiesystems spielen Wasserstoff und E-Fuels demnach auch eine erhebliche Rolle, wobei es große Unterschiede zwischen verschiedenen Szenarien gibt. Einer aktuellen, vom Wasserstoffrat beauftragten Metastudie zufolge geht nur eine einzige Studie im Jahr 2050 von einem Wasserstoffbedarf deutlich über 300 TWh aus. Gemeinsam mit dem Bedarf an wasserstoffbasierten Syntheseprodukten steigt dieser Wert auf 400 bis 800 TWh an. Der tatsächliche Wasserstoffbedarf könnte allerdings noch höher liegen, da nicht alle Studien von dem Ziel einer vollständigen Treibhausgasneutralität in Deutschland und der EU bis 2050 ausgehen. Stattdessen werden teilweise nur Emissionsreduktionen von 95 Prozent in Deutschland sowie 90 Prozent in der EU berücksichtigt. Zudem werden der internationale Luft- und Schiffsverkehr sowie die stoffliche Nutzung von Wasserstoff in der Stahl- und Chemieindustrie in den Studien teilweise nicht oder nur unvollständig abgebildet.

Nachfrage nach Wasserstoff und PtX-Syntheseprodukten in verschiedenen aktuellen Energieszenarien. Die Nachfrage im Jahr 2030 ist noch gering und kommt überwiegend aus der Industrie. Bis 2050 steigt sie stark an, wobei sich die sektoralen Anteile in den Studien stark unterscheiden. Dabei spielen PtX-Produkte teils eine größere Rolle als Wasserstoff.

(Bild: Wietschel, M. et al. (2021): Metastudie Wasserstoff – Auswertung von Energiesystemstudien. Studie im Auftrag des Nationalen Wasserstoffrats. Karlsruhe, Freiburg, Cottbus: Fraunhofer ISI, Fraunhofer ISE, Fraunhofer IEG (Hrsg.). )

Ein viel diskutierter Einsatzbereich, der auch im Fokus dieser Artikelreihe steht, ist der Verkehrssektor mit dem Straßen-, Bahn-, Schiffs- und Flugverkehr. Auch für den Raumwärmebereich wurde vorgeschlagen den vorherrschenden Energieträger Erdgas durch Wasserstoff oder E-Fuels zu ersetzen. In diversen Industrieprozessen kann Wasserstoff als Energieträger eingesetzt werden, in einigen ist auch die stoffliche Nutzung von Wasserstoff bzw. synthetischen Kohlenwasserstoffen möglich. Im Fokus stehen hier unter anderem die Produktion von Eisen und Stahl, die Zementherstellung sowie die chemische Industrie.

Im Stromsektor erscheint Wasserstoff derzeit als aussichtsreiche Option für die Realisierung von Langfrist-Stromspeichern. Diese werden in Szenarien mit steigenden Anteilen fluktuierender erneuerbarer Energien zunehmend erforderlich, um saisonale Schwankungen von Windkraft und Solarenergie mit der Stromnachfrage in Einklang zu bringen. Die Rückverstromung von Wasserstoff dürfte insbesondere erforderlich werden, um seltene Perioden mit einer längeren Nicht-Verfügbarkeit von Wind- und Solarenergie auszugleichen.

In vielen Anwendungsbereichen gibt es direkt elektrifizierbare Alternativen zu Wasserstoff und E-Fuels, die grundsätzlich energieeffizienter sind. Dazu gehören beispielsweise im Straßenverkehr die Batterie-elektrische Mobilität und im Raumwärmebereich die Nutzung von Wärmepumpen. Auch für manche industrielle Prozesse mit höherem Temperaturniveau können Wärmepumpen genutzt werden. Wasserstoff-Anwendungen sind im Vergleich dazu meist weniger energieeffizient, da sowohl bei der Elektrolyse als auch bei Transport und Lagerung sowie gegebenenfalls anderen Umwandlungsschritten Energieverluste auftreten.

Eine breite Nutzung von Wasserstoff in allen oben genannten Anwendungsbereichen erscheint in absehbarer Zukunft unrealistisch. Um grünen Wasserstoff im Verkehr, im Raumwärmebereich und in der Industrie in großem Umfang nutzen zu können, sind in entsprechend großem Maßstab Investitionen in Infrastruktur entlang der gesamten Prozesskette erforderlich: beginnend bei der Wasserstofferzeugung, über den Transport und die Speicherung bis hin zu den verschiedenen Endanwendungen. Erforderlich ist auch ein großskaliger Zubau von erneuerbaren Stromerzeugungsanlagen, die den Strom für die Elektrolyse liefern. Auf der Anwendungsseite sind ebenfalls erhebliche Investitionen erforderlich, beispielsweise in Brennstoffzellen-Fahrzeuge und Wasserstoff-basierte Industrieprozesse.

Würden stattdessen nicht grüner Wasserstoff, sondern auf ihm basierende synthetische Kraft- und Brennstoffe genutzt, könnte bestehende Infrastruktur beim Transport und auf der Anwendungsseite teilweise weitergenutzt werden. Die erforderlichen Investitionen in neue Transport- und Speicherinfrastruktur sowie in neue Endanwendungen könnten somit zumindest für eine Übergangszeit deutlich geringer ausfallen. Dafür wäre wegen der schlechteren Energieeffizienz jedoch ein noch stärkerer Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung nötig als bei einer direkten Nutzung von grünem Wasserstoff. Dazu kommen die erforderlichen Anlagen zur Bereitstellung einer klimaneutralen Kohlenstoffquelle, z.B. aus Biomasse oder aus der Luft, sowie zur Synthese der Kraftstoffe.

Zwei Faktoren erscheinen besonders kritisch für die Realisierung einer Klimaschutzstrategie, die auf einer breiten Wasserstoffnutzung in verschiedenen Sektoren beruhen würde. Erstens dürften die kostengünstig realisierbaren Potenziale für die Herstellung grünen Wasserstoffs nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch weltweit kleiner sein als von Manchen erhofft. Ihnen steht zudem eine weltweit sehr stark steigende Nachfrage nach erneuerbarem Strom in praktisch allen Ländern gegenüber. Zweitens benötigt der Aufbau entsprechender großskaliger Infrastrukturen für die Erzeugung, den Transport und die Endanwendung von grünem Wasserstoff viel Zeit und eine funktionierende Koordination der Angebots- und Nachfrageseite während des Markthochlaufs.

In der Energiesystemanalyse ist weitgehend unumstritten, dass eine Erzeugung großer Mengen grünen Wasserstoffs in Deutschland unrealistisch ist. Dies liegt an einer ohnehin hohen Nachfrage nach grünem Strom in verschiedenen Sektoren und begrenzten kostengünstig zu erschließenden heimischen Potenzialen. Im europäischen Stromverbund sind die Möglichkeiten zum zusätzlichen Ausbau erneuerbarer Energien aufgrund größerer Flächenpotenziale und teilweise besserer Verfügbarkeiten von Windkraft und Solarenergie schon deutlich größer als in Deutschland. Aber in Europa müssen bereits Windkraft- und PV-Anlagen in sehr erheblichem Umfang zugebaut werden, um überhaupt den heutigen Stromverbrauch mit erneuerbaren Energien decken zu können. Je höher der Strombedarf zusätzlicher Optionen der Sektorenkopplung ist, desto höher und herausfordernder sind auch die erforderlichen jährlichen Ausbauraten erneuerbarer Energien.

Weltweit dagegen sind die Potenziale zum Ausbau erneuerbarer Energien grundsätzlich sehr groß. Dies gilt insbesondere, wenn auch abgelegene Regionen betrachtet werden, die heute noch nicht Teil bestehender Stromverbünde sind. Der PtX-Atlas des Fraunhofer-Instituts IEE weist besonders hohe Potenziale zum Beispiel in Australien, Argentinien, den USA und auch Russland aus. Hohe Potenziale gibt es auch in Chile, Kanada, Mexiko sowie einigen afrikanischen Ländern. Daher setzen viele Befürworter eines breiten Einsatzes von Wasserstoff in Deutschland auf künftige Importe aus solchen Regionen.

Allerdings erscheint die praktische Umsetzbarkeit von großskaligen Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien und zur Elektrolyse sowie der nötigen Exportinfrastruktur nicht an allen Standorten gleich realistisch. Neben einer hohen Verfügbarkeit von Wind- und Solarenergie sowie Wasser sind unter anderem ein stabiles politisches und sozioökonomisches Umfeld für Investitionen, förderliche regulatorische Rahmenbedingungen vor Ort sowie hinreichend ausgebildete lokale Arbeitskräfte erforderlich.

Hinzu kommt, dass in vielen Ländern zumindest Teile der verfügbaren Potenziale erneuerbarer Energien ohnehin zunächst für die Dekarbonisierung der dortigen Stromsektoren erschlossen werden müssen. Dies kann zu Konkurrenzen bei der Nutzung von Standorten sowie beim Aufbau der Anlagen führen. Zudem ist in Zukunftsszenarien, in denen alle Länder auf einen treibhausgasneutralen Entwicklungspfad einschwenken, mit einer hohen Nachfrage nach grünem Strom und grünem Wasserstoff nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu rechnen. Daher dürften die tatsächlich und kostengünstig realisierbaren Potenziale für nach Deutschland exportierten Wasserstoff deutlich kleiner sein als in technischen Potenzialstudien angenommen.

Unabhängig von der Frage, wie groß die tatsächlich zu realisierenden Potenziale für kostengünstigen grünen Wasserstoff weltweit sind, würde eine breit angelegte Nutzung von importiertem Wasserstoff einen erheblichen Zeit- und Koordinationsbedarf beim Aufbau der Infrastruktur mit sich bringen. Es müssten zeitnah sehr große Investitionen in meist langlebige Anlagen sowohl auf der Angebots- und der Nachfrageseite sowie bei den Transportinfrastrukturen getätigt werden. Es ist fraglich, ob – zusätzlich zum ohnehin zu beschleunigenden Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung – die globalen Lieferketten überhaupt in der Lage sind, innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte Produktions- und Transportkapazitäten im Multi-TWh-Maßstab umzusetzen.

Zudem müssten diese großskaligen Investitionen auf der Angebots-, Nachfrage- und Transportseite gleichzeitig angestoßen werden. Dies erfordert erhebliche Koordination und zielgerichtete Industrie-, Wirtschafts- und Regulierungspolitik der Regierungen beteiligter Erzeugungs-, Transport- und Abnehmerländer. Insbesondere müssten Investoren ausreichend gegen Angebots- bzw. Nachfrageausfälle abgesichert werden.

Aufgrund der praktischen Potenzialbeschränkungen in Verbindung mit dem erheblichen Zeit- und Koordinationsbedarf erscheint die Option einer breit angelegten Nutzung von grünem Importwasserstoff quer über alle Sektoren hinweg als wenig plausibel. Dies gilt umso mehr für den Zeitraum der nächsten zwei Jahrzehnte, der für die globalen Klimaschutzbemühungen besonders wichtig ist. Die Chancen für die Bewältigung der genannten Herausforderungen dürften deutlich steigen, wenn die erforderlichen Mengen von grünem Wasserstoff begrenzt sind.

Dies führt zur in der Energiesystemanalyse mittlerweile weitverbreiteten Schlussfolgerung, dass grüner Wasserstoff fokussiert in den Bereichen eingesetzt werden sollte, die aus heutiger Sicht keine vielversprechenden Aussichten für eine direkte Elektrifizierung oder anderweitige Dekarbonisierung haben. Dazu gehören insbesondere die Grundstoff-, Chemie- und Stahlindustrie sowie Wasserstoff bzw. E-Fuels als Kraftstoff für den Schiffs- und Flugverkehr. Daneben scheint Wasserstoff für die Realisierung von Langfrist-Stromspeichern aus heutiger Sicht unverzichtbar zur Abdeckung saisonaler Spitzenlasten. Diese Anwendungen werden teils als "No-Regret-Optionen" in klimaneutralen Zukunftsszenarien betrachtet.

Dagegen sollten energieeffizientere, direkt-elektrische Optionen der Sektorenkopplung wo immer möglich priorisiert werden. Dazu gehören insbesondere Batterie-elektrische Fahrzeuge im Straßenverkehr sowie die Nutzung von Wärmepumpen. Aufgrund der viel höheren Energieeffizienz ist es auch sehr wahrscheinlich, dass direkt-elektrische Optionen in diesen Bereichen dauerhaft deutlich günstiger sein werden als Wasserstoff-basierte Alternativen. Speziell im Pkw-Bereich ist mit Blick auf die Investitions- und Entwicklungstätigkeiten der großen internationalen Hersteller ohnehin absehbar, dass Batterie-elektrische Fahrzeuge das Rennen machen.

Der Gründer von Bloomberg New Energy Finance, Michael Liebreich, hat zur Visualisierung der notwendigen Priorisierung von Wasserstoffanwendungen eine recht eingängige "Hydrogen Ladder" entwickelt, die die Anwendungen zwischen den Kategorien "alternativlos" und "unwirtschaftlich" sortiert. Oben befinden sich Anwendungsbereiche, für die Wasserstoff in Hinblick auf den Klimaschutz alternativlos erscheint. Dabei handelt es sich weitgehend um Industrieprozesse. Unten befinden sich Anwendungen, bei denen andere, meist direkt-elektrische Alternativen günstiger sind. Dazu gehören insbesondere verschiedene Arten des Verkehrs an Land sowie die Bereitstellung von Niedertemperaturwärme.

Leiter der Einsatzbereiche sauberen Wasserstoffs (Clean Hydrogen Ladder), in Anlehnung an die Darstellung eines Energieeffizienzlabels. Oben befinden sich Anwendungsbereiche, für die Wasserstoff in Hinblick auf den Klimaschutz alternativlos erscheint; unten befinden sich Anwendungen, bei denen andere, meist direkt-elektrische Alternativen günstiger sind.

(Bild: Clean Hydrogen Use Case Ladder – Version 4.1 @mliebreich. Eigene Übersetzung.)

In einigen Bereichen, wie etwa im Straßengüterverkehr, ist allerdings noch nicht klar absehbar, wo künftig der Einsatz von Wasserstoff vorteilhafter sein könnte als andere Alternativen, da die Technologieentwicklung hier nur begrenzt vorhersehbar ist. Zudem ist teilweise auch noch Forschung zu Wechselwirkungen und Gesamtkosten im Bereich der Systemanalyse nötig. Bei allen Energiesystembetrachtungen muss auch beachtet werden, dass grüner Wasserstoff im Vergleich zu elektrischer Energie relativ gut speicherbar und transportierbar ist. Ob dieser Vorteil seine Effizienznachteile aufwiegt, muss für einzelne Anwendungen systemanalytisch untersucht werden.

Grüner Wasserstoff kann – genauso wie andere Optionen der Sektorenkopplung – fossile Kraft- und Brennstoffe in Anwendungen außerhalb des traditionellen Stromsektors ersetzen und somit Treibhausgasemissionen senken. Zusätzlich kann regional produzierter grüner Wasserstoff aber auch einen Beitrag für eine bessere Systemintegration der fluktuierenden Stromerzeugung aus Windkraft und Solarenergie leisten. Dies ist möglich, da Elektrolyseure und andere Teile von Wasserstoff-Lieferketten nicht nur eine zusätzliche Nachfrage nach erneuerbarem Strom verursachen, sondern diese Nachfrage zeitlich auch flexibel gestaltet werden kann. Wie ausgeprägt diese zeitliche Flexibilität ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Form, in der Wasserstoff gespeichert und transportiert wird sowie von der Entwicklung der Technologiekosten in diesem Bereich.

Dabei kann sich allerdings ein Trade-Off zwischen zeitlicher Flexibilität und Energieeffizienz ergeben: Wasserstoff-Lieferketten, die eine besonders hohe zeitliche Verschiebbarkeit von Stromnachfrage und Wasserstoffbereitstellung erlauben, tendieren dazu, besonders hohe Energieverluste aufzuweisen und umgekehrt. Dieser Trade-Off wurde in einer kürzlich veröffentlichten quelloffenen Modellanalyse untersucht.

Als exemplarisches Anwendungsbeispiel diente die Bereitstellung von grünem Wasserstoff an Tankstellen in Deutschland, die mit dem quelloffenen Stromsektormodell DIETER untersucht wurde. Dabei werden drei großskalige, zentrale Wasserstoff-Lieferketten sowie eine dezentrale Wasserstofferzeugung an der Tankstelle betrachtet. Bei den zentralen Lieferketten wird unterschieden zwischen Druckwasserstoff (GH₂), Flüssigwasserstoff (LH₂) und an flüssige organische Wasserstoffträger gebundenen Wasserstoff (Liquid Organic Hydrogen Carriers, LOHC). Diese Optionen enthalten jeweils die Möglichkeit einer großformatigen Wasserstoffspeicherung. Die dezentrale Elektrolyse direkt vor Ort an der Tankstelle dagegen verfügt dagegen nur über einen kleinen Pufferspeicher, benötigt jedoch weniger Umwandlungsstufen. Im Modell wurden die für das Gesamtsystem kostengünstigsten Auslegungen dieser verschiedenen Wasserstoff-Lieferketten bestimmt. Dies geschah für verschiedene Zukunftsszenarien mit unterschiedlichen Wasserstoffbedarfen und steigenden Anteilen erneuerbarer Energien.

Drei zentrale Lieferketten für grünen Wasserstoff und Vor-Ort Elektrolyse an der Tankstelle. Die Lieferketten haben unterschiedliche Eigenschaften hinsichtlich der Produktionsprozesse, dem Transport und der Speicherung. Der Blitz symbolisiert den notwendigen Einsatz von Elektrizität.

(Bild: Stöckl et al. (2021): Optimal supply chains and power sector benefits of green hydrogen. Scientific Reports 11, Article number: 14191)

Es zeigt sich, dass bei eher niedrigen Anteilen fluktuierender erneuerbarer Energien eine zwar zeitlich wenig flexible, aber aufgrund geringerer Umwandlungsverluste vergleichsweise energieeffiziente dezentrale Elektrolyse vor Ort am kostengünstigsten ist. Dagegen wird bei steigenden Anteilen erneuerbarer Energien und steigender Wasserstoffnachfrage die zeitlich flexiblere Bereitstellung von Wasserstoff durch die zentralen Lieferketten mit Flüssigwasserstoff kostengünstiger, gefolgt von LOHC. Dies gilt trotz einer deutlich schlechteren Energieeffizienz dieser Optionen durch zusätzliche Energieverluste bei der Verflüssigung (LH₂) bzw. bei der Dehydrierung (LOHC). Im untersuchten Szenario hängt dies stark mit der Nutzung temporärer Stromüberschüsse zusammen, für die es in dieser Studie angewendeten Modellkonfiguration außer Stromspeichern keine andere Verwendungsmöglichkeit gibt. Druckwasserstoff (GH₂) ist in den modellierten Szenarien immer unterlegen, sofern keine günstigen Kavernenspeicher verfügbar sind.

Die Modellanalyse zeigt, dass eine zeitlich flexible Wasserstoffbereitstellung die gesamten Systemkosten verringern kann, und damit auch die Kosten der Integration erneuerbarer Energien. Dies gilt jedoch nur, wenn der Wasserstoff in einem Stromverbund erzeugt wird, beispielsweise im europäischen Verbundnetz. Für importierten Wasserstoff aus entfernten Regionen ohne Stromnetzverbindung entfallen derartige Vorteile für die Integration erneuerbarer Energien.

Würden auch andere Optionen der Sektorenkopplung berücksichtigt, die mit Elektrolyseuren um günstige temporäre Stromüberschüsse aus Windkraft und Solarenergie konkurrieren, dürfte der Trade-Off zwischen Energieeffizienz und zeitlicher Flexibilität sich aufgrund knapper Überschüsse zunehmend in Richtung der energieeffizienteren Optionen verschieben. Eine detaillierte Modellierung derartiger Interaktionen verschiedener Optionen der Sektorenkopplung in ambitionierten Klimaschutzszenarien ist ein aktuelles Feld der energiesystemanalytischen Forschung.

In treibhausgasneutralen Zukunftsszenarien ist grüner Wasserstoff ein unverzichtbarer Bestandteil. Er dürfte insbesondere in einigen industriellen Anwendungen als Energieträger und Grundstoff praktisch alternativlos sein. Gleiches gilt für Teile des Verkehrssektors, insbesondere für den Flug- und Schiffsverkehr, wobei hier die Nutzung von wasserstoffbasierten E-Fuels als besonders relevant erscheint. Daher ist es richtig, dass die Politik nun zeitnah konkrete Maßnahmen im Bereich der Forschung, Entwicklung und des Markthochlaufs in diesen Anwendungsbereichen vorantreibt.

Aufgrund begrenzter regionaler Potenziale werden Importe von grünem Wasserstoff und E-Fuels aus anderen Weltregionen langfristig erforderlich sein. Daher muss frühzeitig auf die Entwicklung nicht nur der entsprechenden Erzeugungs- und Transportinfrastruktur hingewirkt werden, sondern auch auf förderliche politische und regulatorische Rahmenbedingungen im In- und Ausland. Dabei sollte auch möglichst schnell ein System für die Nachhaltigkeitszertifizierung von grünem Importwasserstoff entwickelt werden.

Gleichzeitig müssen die Potenziale zur Erzeugung grünen Wasserstoffs in Deutschland und im europäischen Stromverbund soweit wie möglich genutzt werden. Dabei sollte insbesondere auf die Hebung von Synergien bei der Systemintegration fluktuierender erneuerbarer Energien geachtet werden. Erforderlich hierfür ist, die Elektrolyse sowie weitere Prozessschritte bei der Wasserstoffspeicherung und dem Transport technisch und regulatorisch so zu gestalten, dass eine möglichst hohe zeitliche Flexibilität des Strombezugs erreicht wird. Außerdem muss geklärt werden, in welchem Umfang leitungsgebundene Transport- und Verteilnetzinfrastrukturen für Wasserstoff in Deutschland und Europa notwendig werden und welche Rolle dabei die Umrüstung von Erdgasnetzen spielen kann.

Selbst mit großen Anstrengungen beim Hochlauf von heimischen Erzeugungsstrukturen und beim Importwasserstoff bleibt jedoch absehbar, dass grüner Wasserstoff in Deutschland kaum in beliebig großen Mengen kostengünstig zur Verfügung gestellt werden kann. Vielmehr wird er aufgrund von Potenzialbeschränkungen und eines nicht beliebig schnell skalierbaren Hochlaufs ein knappes Gut bleiben. Dies gilt insbesondere im Zeitraum der nächsten zwei Jahrzehnte, der für die internationalen Klimaschutzbemühungen besonders wichtig ist. Vergleichbare Einschränkungen gelten auch für E-Fuels, mit denen zwar vorhandene Transport- und Speicherinfrastrukturen sowie Endanwendungen weiter genutzt werden könnten, die dafür aber aufgrund der schlechteren Energieeffizienz einen noch stärkeren Zubau erneuerbarer Energien erfordern.

Eine Nutzung und Förderung von grünem Wasserstoff bzw. E-Fuels nach dem Gießkannen-Prinzip über alle Anwendungsbereiche hinweg sollte daher vermieden werden. Eine Fokussierung auf solche Anwendungsbereiche, in denen energieeffizientere und kostengünstigere Alternativen nicht zur Verfügung stehen oder absehbar sind, erscheint deutlich sinnvoller und vielversprechender. Gerade bei den – in dieser Artikelserie im Fokus stehenden – Pkw erscheint eine umfängliche Nutzung von Wasserstoff mittlerweile als äußerst unplausibel. Zumindest in diesem Segment könnte ein politisches Festhalten an der Grundidee der Technologieoffenheit den schnellen Umstieg auf die deutlich energieeffizientere und zeitnah umsetzbare Alternative der Batterie-elektrischen Fahrzeuge eher hemmen. Stattdessen wären mittlerweile klarere und technologiespezifischere Vorgaben der Politik bei Förder- und Infrastrukturmaßnahmen hilfreich. Ähnliches gilt im Raumwärmebereich, wo unplausible Konzepte einer umfangreichen künftigen Wasserstoff- bzw. E-Fuel-Nutzung den dringend benötigen, zeitnahen Zubau von Wärmepumpen hemmen könnten.

Grundsätzlich erscheint es fraglich, ob die Ausgestaltung von Fördermaßnahmen und Strategien zum Markthochlauf von Wasserstoff übermäßig von industriepolitischen Überlegungen getrieben werden sollte. Vielmehr sollte der Energiesystemanalyse hier ein größeres Gewicht beigemessen werden. Dadurch könnten politische Maßnahmen und Strategien stärker von Erkenntnissen zur Rolle grünen Wasserstoffs in plausiblen und praktisch umsetzbaren Zukunftsszenarien eines treibhausgasneutralen Energiesystems geleitet werden. Unverzichtbar für das Gelingen der Energiewende bleibt in jedem Fall ein deutlich verstärkter Ausbau der erneuerbaren Energien.

(olb)